Exkursionsbericht

Psychiatrische Versorgung – mutiert und pervertiert:
Von einer modernen Psychiatrie zur Tötungsanstalt im Dritten Reich: Pirna-Sonnenstein

Der Verein Psychosoziale Aspekte der Humangenetik e. V. (VPAH) führte vom 13.-15. September 2019 eine selbstorganisierte Exkursion durch, in deren Mittelpunkt die Auseinandersetzung mit der sogenannten Euthanasie, der später in der Literatur als Aktion T4 bezeichneten Vernichtung lebensunwerten Lebens statt. Die 12 Teilnehmer fanden im Gasthof Dresden-Coschütz ein behütetes Ambiente, um sich intensiv mit diesem Thema auseinanderzusetzen.

Am Freitagabend führte Frau Dr. Hannelore Hauß-Albert (Duisburg) in die Entstehung und die Grundaussagen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) vom 14. Juli 1933 ein. Verständlich wurde herausgearbeitet, dass dieses Gesetz bereits vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten durch die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 vorbereitet wurde und am 1. Januar 1934 in Kraft trat. Eugenik war keine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern ein in der ganzen Welt und in allen politischen Lagern Anfang des 20. Jahrhunderts zu verortendes Paradigma. Kulturpessimismus und die Angst vor dem „Untergang des Abendlandes“ hatten sich die Nazis für ihre Ideologie zu Nutze gemacht; die Schablonen für Sterilisation und spätere Vernichtung Andersartiger waren schon in der Schreibtischschublade. Das GzVeN war zur Beruhigung bürgerlicher Kräfte gedacht. Es ging nicht um Erbkrankheiten, sondern um Andersartige und Unangepasste, denen man das Recht auf körperliche Unversehrtheit zugunsten eines „gesunden Volkskörpers“ absprach. Gerade die renommierten Ärzte und Wissenschaftler, vor allem Psychiater, hätte auch bei damaligem Erkenntnisstand wissen können, eigentlich wissen müssen, dass die in den Begründungen des Gesetzes dargelegten „wissenschaftlichen Erkenntnisse“ völliger Humbug waren: Das Hardy-Weinberg-Äquilibrium war seit 1906 bekannt. Selbst wenn alle Homozygoten für Cystische Fibrose unfruchtbar gemacht würden, würde dies die Allelfrequenz von CF-Mutationen in der Bevölkerung kaum beeinflussen. Siehe hierzu auch den demnächst erscheinenden Beitrag von Hauß-Albert auf der Homepage des VPAH (vpah.de).

Dass diese Ideologie der „(Erb-) Gesundheit des Volkskörpers“ und später der Vernichtung unnötiger Esser, die die Volksgesundheit schädigen und unnötige Kosten verursachen, diente, wurde am Samstagvormittag im Rahmen der Besichtigung der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein eingehend erläutert. Der Bogen wurde hierbei von der Französischen Revolution (1789-1799) bis zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte nach 1990 geschlagen. Bereits 1811 wurde die „Königlich Sächsische Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein“ gegründet und war damit die erste dauerhaft existierende staatliche Betreuungseinrichtung für psychisch kranke Menschen in Deutschland und erlangte unter dem Psychiater Dr. Ernst Pienitz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Status einer Musteranstalt von europäischer Bedeutung. Innovative architektonische (Pavillonbauweise) und Behandlungskonzepte (Musik-, Kunst- und Beschäftigungstherapie) und Betreuungskonzepte (offene Fürsorge) führten bis in die 1920er Jahre zu beachtlichen Heilerfolgen. Diese und andere Anstalten mussten jedoch während des Ersten Weltkrieges erleben, dass die Bewohner unter einer 1000-Kalorien-Diät der ausgegebenen Lebensmittelkarten dahin vegetierten und in nicht unerheblicher Anzahl an den Folgen einer Mangelernährung verstarben. Das war die Geburtsstunde der Forderung vieler involvierter Ärzte, in dieser Mangelsituation auswählen zu können, wer überleben soll und wer dem Mangel geopfert wird. Die Idee der Euthanasie war in der Welt. Die ursprünglichen humanistischen Gründungsideale der Anstalt wurden 1933 durch „Sonderkost“, Zwangssterilisation und ab 1934 durch die Einrichtung einer Gaskammer (den Gashahn durfte nur ein „Arzt“ bedienen!) und zweier Verbrennungsöfen vollständig aufgegeben. Die „Grauen Busse“ brachten nicht nur Kranke, auch Kinder (!), sondern auch unerwünschte, nicht systemkonforme, „asoziale“ Subjekte nach Sonnenstein. Der Rauch und Geruch muss kilometerweit wahrgenommen worden sein; die Asche der Verbrannten wurde einfach den Elbhang hinunter geschüttet. Ein Wanderweg zu Zeiten der DDR ließ diese unschuldig und sinnlos Gemordeten mit Füßen treten! Erst nach der politischen Wende wurden die Überreste der einstigen Tötungsanstalt entdeckt und seine Geschichte würdevoll aufgearbeitet. Ein Besuch, der bei allen Teilnehmern tiefes Entsetzen und Abscheu vor den Gräueltaten, aber auch tiefe emotionale Beklommenheit vor dieser unmenschlichen Moral auslöste.

Einen Ausgleich schaffte die sich anschließende Stadtführung durch die historische Innenstadt Pirnas, die 1233 erstmals urkundlich erwähnt wurde. Zu besichtigen waren die erhaltenen, liebe- und originalgetreu restaurierten Häuser mit einer Bausubstanz teilweise aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Obwohl es durch den mutigen Einsatz des Apothekers Theophilus Jacobäer 1639 gelungen war, die Stadt vor der Zerstörung durch die Schwedischen Söldner zu bewahren und auch der 1. und 2. Weltkrieg kaum Spuren der Verwüstung hinterlassen hatten, war nach 40 Jahren DDR die Bausubstanz mehr als hinfällig. Jetzt erstrahlt Pirnas Altstadt in neuem Glanz, selbst nach der Jahrhundertflut 2002 und der Flut 2013, die weite Teile der Altstadt im Wasser versinken ließen. Das Teufelserkerhaus und, diagonal zum Markt mit historischen Canaletto-Blick (Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, 1721/22-1780; Rathaus, 1597 wiederhergestellt; „Canaletto-Haus“ – Bürgerhaus aus der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts) sind das Teufelserker- und Engelserkerhaus (16. Jahrhundert) besondere Blickfänge. Ein Einblick in die erhaltene Bohlenstube aus dem Jahre 1381 im Geburtshaus von Johannes Tetzel (ca. 1465-1519), dem Erfinder des Ablasshandels und somit Gegenspieler Martin Luthers ließ erneut Gedanken aufkommen, wie eine Ideologie und Moral Menschen veranlasst, unliebsame Menschen auf grausame Weise von der Welt zu schaffen: die Hexenverbrennungen. Der ganze Reichtum der Stadt Pirna, die 1325 durch König Johann von Böhmen das Stapelrecht verliehen bekam, das die durchziehenden Kaufleute auf Handelsschiffen auf der Elbe veranlasste, ihre Waren in Pirna auszubreiten, kommt in der wundervoll restaurierten Marien-Kirche, als herausragendem Beispiel spätgotischer Sakralbaukunst (Bauzeit: 1502-1546) zum Ausdruck.

Den Abend gestaltete Herr Dr. Harald Jenner, Historiker aus Berlin, mit einem sehr lebendigen Vortrag über andere Methoden der Nationalsozialisten, sich des „unwerten Lebens“ und „unnützer Esser“ zu entledigen. Medikamente in Form von Tabletten und Spritzen, unmenschliche Versuche am Menschen und das besonders in Sachsen eingeführte Verfahren mit „Hungersuppen“ (stundenlang ausgekochte Gemüsesuppen und somit ohne jeglichen Kalorien-, Vitamin- oder Mineraliengehalt) waren „beliebte“ Methoden, Menschen eines anscheinend „natürlichen Todes“ sterben zu lassen. Sehr interessant waren auch seine Ausführungen zur Kindereuthanasie in den so bezeichneten Kinderfachabteilungen. Mit Verwunderung war zu erfahren, was aus allen diesen sogenannten „Ärzten“ nach der Zerschlagung des Dritten Reiches wurde; viele Posten im Gesundheitswesen aber auch politische Ämter der Bundesrepublik wurden von ihnen besetzt. Aber auch in der DDR war es wohl nicht anders; der Autor erinnert sich an seine Studienzeit, wo er ehrfurchtsvoll auf einen Kinderarzt und „Verdienten Arzt des Volkes“ schaute, nach dem sogar eine Kinderklinik benannt wurde. Später war zu erfahren, dass auch dieser Kinder über die Kinderfachabteilungen in den Tod schickte.

Back to the roots führte der Sonntagvormittag ins Deutsche Hygiene-Museum (DHM). 1911 richtete hier der durch sein Mundwasser „Odol“ (übrigens noch heute in der Originalflasche) bekannte Fabrikant Karl August Lingner die erste Internationale Hygiene-Ausstellung aus. Auf dieser Ausstellung wurden bereits eugenische Gedanken, die ja keine Erfindung der Nationalsozialisten sind, geäußert und zur Schau gestellt. Das DHM stellte sich ab 1933 ganz in den Dienst der Rassenhygiene, entwarf und editierte Anschauungsmaterial und Lehrbücher für Schulen und der NSDAP gleichgeschaltete Organisationen, führte Vortragsreihen und Ausstellungen durch. Heute präsentiert sich das DHM, ein Bauwerk im Bauhausstil, in neuem Glanz und zeigt in der Dauerausstellung, deren Mittelpunkt die Gläserne Frau darstellt, neben Medizingeschichte auch die modernen Erkenntnisse in molekularer Medizin und Humangenetik. Hier schloss sich der Kreis eines für alle Teilnehmer sehr anstrengenden, arbeits- und gesprächsintensiven, lehrreichen und emotional noch lange nachhaltenden Wochenendes. Immer wieder kamen dem Autor die Worte Bertolt Brechts in den Sinn, die zur Wachsamkeit gemahnen: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“ – Nicht nur in Dresden und Pirna, die es gut verstanden haben, mit ihrer Geschichte umzugehen und daraus zu lernen.

Nähere Informationen können über die Homepage des VPAH (vpah.de) bzw. den Autor (friedmar.kreuz@humangenetik-tuebingen.de) eingeholt werden.
Dr. Friedmar Kreuz, M. A.